Die Verwendung von Cannabis als Rausch- und Heilmittel hat eine lange Tradition. Im Internet finden sich etliche Erfahrungsberichte zum Thema Cannabis in der Medizin – darunter auch viele Mythen. Die einen preisen es als Wundermittel, während andere der Pflanze jede medizinische Wirkung absprechen und vor den Gefahren warnen. Doch was ist wahr? Im Folgenden schauen wir uns einmal an, was die Wissenschaft zum Thema Cannabis in der Medizin zu berichten weiß.
Als medizinisches Cannabis, Medizinalcannabis, Cannabisarzneimittel oder cannabis- oder cannabinoidbasierte Arzneimittel (CAM) werden Medikamente bezeichnet, die aus der Cannabispflanze (lateinisch: Cannabis sativa L., deutsch: Hanfpflanze) gewonnen werden oder cannabisähnliche Wirkstoffe enthalten. Letztere können entweder aus der Pflanze isoliert oder im Labor hergestellt worden sein. Wird der Begriff „Cannabis“ ohne weitere Ausführung verwendet, ist meist allgemein die Pflanze Cannabis (Cannabis sativa L.) oder die getrocknete weibliche Cannabisblüte (häufigste Darreichungsform von cannabisbasierten Arzneimitteln) gemeint. Ziel bei einer Therapie mit medizinischem Cannabis ist immer die Behandlung oder Linderung von Krankheiten oder krankhaften Beschwerden und Symptomen und keineswegs der Gebrauch als Genussmittel.
Schwerkranke Patient:innen erhalten medizinische Cannabisblüten oder Cannabispräparate in der Apotheke. Um eine gleichbleibend hochwertige Qualität sicherzustellen, hat das BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) mit dem neuen Gesetz „Cannabis als Medizin“ 2017 auch eine staatliche Cannabisagentur ins Leben gerufen. Diese kontrolliert und steuert Anbau, Verarbeitung und Abgabe von medizinischem Cannabis. Zusätzlich zu den in Deutschland angebauten Cannabispflanzen wird der Bedarf auch über Importe gedeckt. Diese erfolgen zur Zeit vor allem aus den Niederlanden und Kanada. Der Eigenanbau von Cannabis ist aktuell untersagt.
Cannabis gehört zu den ältesten Kultur- und Nutzpflanzen. Es wurde über viele Jahrhunderte als Rauschmittel verwendet – allerdings ist Cannabis auch eine der ältesten Heilpflanzen, die wir kennen. Heute gehört Cannabis nach Schätzungen der WHO mit Abstand zu der häufigsten angebauten, gehandelten und missbrauchten illegalen Drogen weltweit. Ungefähr 147 Millionen Menschen, das bedeutet etwa 2,5 % der Weltbevölkerung, konsumieren Cannabis im Jahr. Im Vergleich dazu gibt es etwa 0,2 % Kokain- und Opiatkonsumenten.
Die Versorgung von kranken Menschen mit cannabisbasierten Arzneimitteln und Medizinprodukten wird vor diesem Hintergrund kontrovers diskutiert. Eine von Ärzten häufig geäußerte Sorge ist, dass eine Abhängigkeit, Missbrauch oder ein schädlicher Konsum von Cannabis eintreten kann. Das körperliche und psychische Abhängigkeitspotenzial ist aber im Vergleich zu anderen Substanzen als gering einzuschätzen. Das macht Medizinalcannabis zu einem Medikament mit einem vergleichsweise kleinen Therapierisiko.
Seit dem 10. März 2017 ist es in Deutschland möglich, dass Ärzte cannabishaltige Arzneimittel für Patientinnen und Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen mit verhältnismäßig geringem Aufwand verordnen können. Ein Ende der teils sehr emotional geführten Debatte um den medizinischen Nutzen von Cannabis ist aber weiterhin nicht in Sicht: Von einigen wird es nach wie vor als „Kifferkraut“ verteufelt, von anderen als harmloses Wundermittel gepriesen. Die Wahrheit liegt also wie so oft vermutlich irgendwo dazwischen. Fakt ist, dass Nutzen und Risiko, wie bei jedem anderen Medikament auch, in jedem Fall individuell abgewogen werden müssen. Das wissenschaftliche Interesse ist über die letzten Jahre stetig gestiegen. Und da auch weiterhin immer neue interessante Einsichten zu medizinischem Cannabis veröffentlicht werden, bleibt es wohl auch noch eine Weile spannend.
In der Therapie mit Medizinalcannabis kommen vor allem zwei Verabreichungsarten zum Einsatz:
Je nachdem, ob eher ein schneller Wirkeintritt oder eine länger anhaltende Wirkung gewünscht ist, kann die Darreichungsform an die Bedürfnisse der Patientin oder des Patienten angepasst werden.
Die folgende Tabelle bietet eine Übersicht über einige wichtige Eigenschaften der beiden Darreichungsformen inhalativ und oral:
Inhalative Einnahme | orale Einnahme | |
Wie viel Wirkstoff steht dem Körper zur Verfügung? | 15-35 % | 3-12 % |
Wirkungseintritt | Sekunden bis Minuten | 30-90 Minuten |
Maximale Wirkung bei | 20 Minuten | 2-4 Stunden |
Dauer der Wirkung | 2-3 Stunden | 4-8 Stunden |
Verarbeitung über die Leber (First-Pass-Effekt) | Nein | Ja |
Die Cannabispflanze enthält mehrere hundert potenziell wirksame Substanzen. Zu den wichtigsten Inhaltsstoffen gehören die Cannabinoide, von denen mehr als 100 bekannt sind. In der Therapie mit Medizinalcannabis spielen vor allem die Cannabinoide Δ-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) eine entscheidende Rolle.
THC ist das bisher am besten untersuchte Cannabinoid aus der Hanfpflanze. Es löst die meisten bekannten körperlichen und psychischen Wirkungen von Cannabis aus.
In Studien konnte bisher unter anderem folgende Effekte von THC beobachtet werden: schmerzlindernd, schlaffördernd, appetitanregend, gegen Übelkeit und Erbrechen wirksam, euphorisierend, unterstützend bei der Suchtentwöhnung, Tics-reduzierend (z. B. bei Tourette-Syndrom), krampflösend (v. a. der glatten Muskulatur).
Die Qualität der zugrundeliegenden Studien ist jedoch in vielen Fällen leider nicht so hoch, dass sich daraus auch allgemeine Aussagen zur Wirkung ableiten ließen.
Cannabidiol (CBD) wirkt im Gegensatz zu THC nicht berauschend.
Für folgende Wirkungen von CBD liegen Hinweise vor:
entzündungshemmend, schlaffördernd, angstlösend, krampflösend (zusammen mit THC), kann die psychoaktive Wirkung von THC abmildern.
Auch hier gilt leider noch das traurige Mantra der Cannabisforschung: die Anzahl an qualitativ hochwertigen Studien ist bisher gering – endgültige Aussagen zur Wirksamkeit lassen sich daher in vielen Fällen nicht treffen.
Bei vielen Beschwerden und Erkrankungen wird die Wirksamkeit von Cannabispräparaten erforscht, zum Teil mit vielversprechenden ersten Ergebnissen. Die Menge an Studien ist über die letzten Jahre stark angestiegen. Die Aussagekraft der Studien ist leider oft nicht sehr hoch und je nach Erkrankung als mäßig bis unklar zu bewerten.
Insgesamt ähneln sich die Cannabinoide in ihrer chemischen Struktur. Sie kommen nicht nur in der Cannabispflanze vor (Phytocannabinoide), sondern werden auch von unserem Körper gebildet (Endocannabinoide). Dort dienen sie als Botenstoffe und nehmen unter anderem Einfluss auf das Schmerzempfinden, Immunsystem, Entzündungsprozesse, Appetit, Gedächtnisleistung und die Psyche.
Cannabinoide, die im Labor hergestellt werden, unterscheiden sich von den körpereigenen und pflanzlichen Wirkstoffen in ihrer chemischen Struktur. Canames® (Wirkstoff: Nabilon) beispielsweise wird bei Übelkeit und Erbrechen infolge einer Chemotherapie eingesetzt. Die Frage nach den genauen Wirkmechanismen von Cannabinoiden ist immer noch nicht vollständig geklärt und bedarf auch zukünftig noch weiterer Forschung.
Cannabis hat als Medikament ein breites therapeutisches Potenzial und damit viele mögliche Anwendungsbereiche. Das liegt daran, dass die Substanzen ein körpereigenes Signalsystem beeinflussen, das sogenannte Endocannabinoidsystem. Bestandteile dieses Systems finden sich überall im Körper. Die Wirksamkeit von Cannabispräparaten wird bei einer Vielzahl von Erkrankungen und Beschwerden untersucht, teilweise mit vielversprechenden ersten Ergebnissen. Mögliche Indikationen, die sich aus klinischen Studien zur Wirksamkeit mit mäßiger bis hinreichender Aussagekraft ergeben, sind z. B.:
Weitere potenzielle Indikationen, für die Hinweise aus Studien mit niedriger bis unklarer Aussagekraft vorliegen:
In der Regel wird eine Behandlung mit Cannabis als Begleittherapie („Add-on“), d. h. zusätzlich zu bereits eingenommenen Medikamenten und/oder Therapien, eingesetzt. Es muss für die Verschreibung laut dem Gesetz von 2017 eine „schwerwiegende Erkrankung“ vorliegen und die bewährten Therapieoptionen erfolglos probiert oder nicht verfügbar sein. Der Arzt kann jedoch unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes auch entscheiden, dass eine Behandlungsoption nicht zum Einsatz kommt, obwohl sie verfügbar wäre. So könnten sich Arzt/Ärztin und Patient/Patientin z. B. gegen einen Therapieversuch mit Opioiden entscheiden, weil eine Geschichte von Substanzmissbrauch oder Verdauungsprobleme vorliegen.
Nach einer von das BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) aufgestellten Begleiterhebung (Stand: 6. März 2020) werden Cannabinoide zur Therapie folgender Indikationen/ Beschwerden verwendet:
Erkrankung oder Symptomatik | Fälle (insgesamt n=8.872) | Prozentualer Anteil |
Schmerzen | 6.374 | ca. 72 % |
Krämpfe (Spastik) | 940 | ca. 11 % |
Gewichtsverlust (Anorexie/Wasting) | 590 | ca. 7 % |
Übelkeit/Erbrechen | 341 | ca. 4 % |
Depressionen | 259 | ca. 3 % |
Migräne | 181 | ca. 2 % |
entzündliche, nichtinfektiöse Darmkrankheit | 113 | ca. 1 % |
ADHS | 111 | ca. 1 % |
Appetitmangel/ Inappetenz | 111 | ca. 1 % |
Epilepsie | 97 | ca. 1 % |
Ticstörung, inklusive Tourette-Syndrom | 79 | < 1 % |
Restless-Legs-Syndrom | 78 | < 1 % |
Schlafstörung/Insomnie | 74 | < 1 % |
Seit März 2017 kann in Deutschland medizinisches Cannabis von Ärztinnen und Ärzten jeder Fachrichtung (mit Ausnahme von Zahn- und Tierärzten) verordnet werden.
Damit eine Behandlung mit Cannabis verordnet werden kann, müssen vier Voraussetzungen erfüllt sein:
In Deutschland hat es sich durchgesetzt, dass Cannabis gesetzlich nicht nur bei bestimmten Krankheiten verschrieben werden kann. Stattdessen steht die Schwere der Erkrankung im Vordergrund. Die Verantwortung und die Entscheidung, ob eine Therapie mit Medizinalcannabis Erfolg verspricht und sinnvoll ist, liegt damit beim Arzt oder bei der Ärztin. Trotzdem wurden in der Vergangenheit bestimmte Erkrankungen durch höchstrichterliche Rechtsprechung als „schwerwiegend” eingestuft. Dazu gehören:
Medizinalcannabis ist unter gewissen Voraussetzungen erstattungsfähig. Die jeweilige Krankenkasse darf eine Übernahme der Kosten nur in begründeten Fällen verweigern. Bei einer Ablehnung kann der/die Patient:in Widerspruch einlegen. Sollte dieser Widerspruch erneut abgelehnt werden, kann eine Klage vor dem zuständigen Sozialgericht erfolgen. Alternativ kann mit einer Verschreibung auf ein Privatrezept selbst gezahlt werden.
Sollen die Kosten von einer gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übernommen werden, muss vor der ersten Verordnung eine Genehmigung von der Krankenkasse eingeholt werden. Der Antrag auf Kostenübernahme für Mediznalcannabis wird formal vom Patient bzw. von der Patientin gestellt.
Bei cannabisbasierten Medikamenten (CAM) handelt es sich weiterhin um Betäubungsmittel. Die Verschreibung erfolgt deswegen auf ein Betäubungsmittelrezept (BtM-Rezept). Das sind spezielle, gelbe Rezeptvordrucke. Das Rezept muss bestimmte Informationen enthalten; nach Vorlage eines gültigen Rezeptes von einer Ärztin oder einem Arzt sind Cannabisprodukte in den Apotheken/einer Cannabis Apotheke erhältlich. Alle wichtigen Informationen zum Thema Cannabisrezept und wie Sie Ihr Cannabis Rezept einlösen gibt es in unserem Beitrag zu diesem Thema.
1) Informationen zum Endocannabinoidsystem
2) Geschichte des Cannabis
3) Wirkung der Cannabinoide und Indikationen
4) Darreichungsformen von Cannabis
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