Key Facts
Unaufmerksamkeit, übermäßige Aktivität und Impulsivität: Der Alltag mit ADHS – mit vollem Namen Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung – kann herausfordernd sein. Mit schätzungsweise zwei bis sechs Prozent betroffenen Kindern handelt es sich um eine der häufigsten psychischen Erkrankungen im Kindesalter.
In etwa der Hälfte der Fälle bleibt ADHS jedoch auch im Erwachsenenalter noch bestehen, wobei man von einer hohen Dunkelziffer ausgeht. Nach Schätzungen sind drei Prozent der Erwachsenen in Deutschland von der Erkrankung betroffen, was mehr als zwei Millionen Menschen entspricht.
Als Standard-Therapie bei ADHS gilt Methylphenidat, besser bekannt unter den Markennamen Ritalin oder Medikinet. Dieses schlägt jedoch nicht immer oder mitunter nur teilweise an und kann Nebenwirkungen wie Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen hervorrufen. Während auf der Suche nach alternativen Behandlungsmethoden immer wieder Berichte über Cannabis als Medizin laut werden, haben wir uns die aktuelle Studienlage angesehen.
Britische Forschende führten 2017 eine Pilotstudie zur Anwendung von Cannabis bei ADHS durch. Dabei handelt es sich um das bisher einzige Forschungsprojekt zu Cannabis bei ADHS, welches mit seinem doppelblinden, randomisierten und placebokontrollierten Studiendesign alle Voraussetzungen für den Goldstandard unter den Untersuchungen erfüllte.
In der Studie teilten die Wissenschaftler:innen 30 Erwachsene mit ADHS in zwei gleich große Gruppen ein und beobachteten diese über einen Zeitraum von sechs Wochen. Während der Kontrollgruppe ein Placebo verabreicht wurde, erhielt die Experimentalgruppe das Sativex® Mundspray, welches zu gleichen Anteilen CBD und THC enthielt.
Während die Veränderungen nicht signifikant waren, wurden in folgenden Bereichen jedoch Verbesserungen festgestellt:
Obwohl Cannabiskonsum im Allgemeinen mit einer Beeinträchtigung der kognitiven Funktion verbunden ist, konnten durch die Anwendung von Sativex® bei den ADHS-Patient:innen keinerlei negativen Auswirkungen auf die kognitiven Leistungen festgestellt werden.
Obwohl die durch Sativex® festgestellten Verbesserungen nicht signifikant waren, ähnelten sie hinsichtlich der kognitiven Leistung und der ADHS-Symptome denen, die in anderen Untersuchungen bei der Behandlung von ADHS mit gängigen Stimulanzien wie Methylphenidat beobachtet wurden.
Eingeschränkt wird die Aussagekraft der Untersuchung dadurch, dass es sich um eine Pilotstudie mit einer kleinen Gruppengröße handelte.
Nichtsdestotrotz leitet sich aus den Ergebnissen der Studie aus Sicht der Forschenden die klare Notwendigkeit weiterer Untersuchungen über die Rolle des Endocannabinoidsystems bei ADHS ab. Derzeit besteht jedoch eine Lücke zwischen dem Bedarf und den tatsächlich vorliegenden Untersuchungen mit einem hochwertigen Studiendesign zu potenziellen Wirkungen und Nebenwirkungen von Cannabis bei ADHS.
Bis 2017 durfte medizinisches Cannabis in Deutschland lediglich mit einer Ausnahmeerlaubnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) verschrieben werden. 14 Prozent dieser Erlaubnisse wurden zur Behandlung von ADHS erteilt.
Nachdem 2017 die Cannabis Legalisierung zu medizinischen Zwecken in Kraft trat, machten Verschreibungen bei ADHS zwischen 2017 und 2022 nur noch gut ein Prozent der erfassten Fälle aus.
Als mögliche Ursache gilt die 2017 veröffentlichte Empfehlung der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWM). Die beteiligten Kammern und Verbände, wie etwa die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, hatten in dieser einstimmig von der Behandlung von ADHS mit Cannabis abgeraten.
Im selben Jahr gab der ADHS Deutschland e. V. in einer Stellungnahme an, vor dem Hintergrund einer wirksamen Standardtherapie keine generelle Empfehlung für Cannabis bei ADHS aussprechen zu können und die Nebenwirkungen in keinem angemessenen Verhältnis zu den bislang nur wenig erforschten Vorteilen zu sehen. Zugleich räumte der Verband jedoch ein, den individuellen Bemühungen von ADHS-Patient:innen um eine entsprechende Behandlung nicht im Weg stehen zu wollen.
Von Betroffenen wird Cannabis mitunter in Eigenregie mit Methylphenidat, dem Wirkstoff in gängigen ADHS-Medikamenten, kombiniert. Potenziell könnte diese Kombination jedoch zu gefährlichen Wechselwirkungen führen.
Festgestellt wurde dies in einer Doppelblindstudie an 16 gesunden Erwachsenen, die weder an ADHS noch an anderen psychischen Erkrankungen litten und einen mäßigen Konsum von Cannabis angaben. In sechs Sessions wurden ihnen Kombinationen aus einem Placebo, oralen 10-mg-Dosen an THC und unterschiedlichen Mengen an Methylphenidat verabreicht.
Die Kombination von THC mit Methylphenidat führte in jedem der untersuchten Szenarien zu einer erhöhten Herzfrequenz. Bei einer Verschreibung von medizinischem Cannabis bei ADHS sollte eine gleichzeitige Einnahme mit ADHS-Medikamenten wie Ritalin oder Medikinet also in jedem Fall ärztlich abgeklärt werden.
Seit 2017 können Ärzt:innen laut § 31 Absatz 6 SGB V medizinisches Cannabis verordnen. Allerdings nennt das Gesetz dafür keine konkreten Anwendungsfälle (Indikationen). Als Voraussetzung für die Verschreibung gilt eine schwerwiegende Erkrankung, die nicht mit den üblichen Therapien behandelt werden kann und für die der Einsatz von Cannabis als erfolgversprechend gilt.
In der von der Bundesregierung erhobenen Begleiterhebung wurden zwischen 2017 und 2022 163 Verschreibungen von Cannabis bei ADHS erfasst. Allerdings gibt es für dessen Einsatz keine klinische Empfehlung, da die Forschungslage derzeit unzureichend ist.
Vom Einsatz illegaler Drogen ist, ob mit oder ohne ADHS, dringend abzuraten. Leider zeigen Untersuchungen jedoch, dass Personen mit ADHS sogar ein doppelt so häufiges Risiko für die Entwicklung von Substanzkonsumstörungen aufweisen.
Während Cannabis derzeit (Stand: November 2022) als illegale Droge gilt, gibt es vorsichtige Hinweise auf eine mögliche Wirkung bei ADHS. Die Verschreibung von medizinischem Cannabis ist für ADHS grundsätzlich möglich, aufgrund einer unzureichenden Forschungslage jedoch umstritten.
Liegt eine Verschreibung von Cannabis auf Rezept vor, können ADHS-Patient:innen grundsätzlich bei jeder Krankenkasse einen Antrag auf Kostenübernahme stellen. Der sogenannte Genehmigungsvorbehalt gibt gesetzlichen Krankenkassen jedoch auch die Möglichkeit, einen Antrag auf Kostenübernahme für medizinisches Cannabis abzulehnen.
Bei privaten Krankenkassen liegt kein Genehmigungsvorbehalt vor. Eine Übernahme der Kosten für eine Behandlung mit medizinischem Cannabis hängt hier davon ab, welcher Tarif mit welchen Leistungen abgeschlossen wurde.
Eine potenzielle Wirksamkeit von Cannabis beziehungsweise der darin enthaltenen Cannabinoide bei ADHS ist noch nicht ausreichend erforscht, um hierzu eine Aussage treffen zu können. Cannabinoide könnten anhand ihrer Wirkung auf das körpereigene Endocannabinoidsystem jedoch einen beruhigenden Effekt ausüben. Eine britische Untersuchung aus dem Jahr 2017 liefert erste Anhaltspunkte für eine mögliche Wirksamkeit und unterstreicht die Notwendigkeit weiterer Forschungen.
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ADHS bei Erwachsenen oft unentdeckt (aerzteblatt.de, 2018)
Cannabis-Medikation bei ADHS: Ja oder Nein? (Vorstand und Beirat des ADHS Deutschland e. V, 2017)
Abschlussbericht der Begleiterhebung nach § 31 Absatz 6 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch zur Verschreibung und Anwendung von Cannabisarzneimitteln (Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte, 2022)
Cannabinoids in attention-deficit/hyperactivity disorder: A randomised-controlled trial (Cooper, Williams et al., 2017)
The Complicated Relationship Between Attention Deficit/Hyperactivity Disorder and Substance Use Disorders (Zulauf, Sprich et al., 2014) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4414493/
Cannabis-Report des SOCIUM Forschungszentrums für Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen (Glaeske, Sauer et al., 2018)An exploratory study of the combined effects of orally administered methylphenidate and delta-9-tetrahydrocannabinol (THC) on cardiovascular function, subjective effects, and performance in healthy adults (Kollins, Schoenfelder et al., 2015)