Ist bei Depressionen Cannabiskonsum empfehlenswert? 

Inhalt Depressionen und Cannabis – die grundlegenden Zahlen Zum Hintergrund in Kürze: Das Endocannabinoidsystem Bei Depression: Cannabiskonsum? Auswertung der Nutzerdaten einer Cannabis-App Können Depressionen durch Cannabiskonsum verschlimmert oder verursacht werden? Antidepressiva und Cannabis: Gilt es Wechselwirkungen zu beachten? Fazit: Kann man bei Depressionen Cannabiskonsum empfehlen? Key Facts In Deutschland erkrankt fast jede:r Fünfte im Laufe […]

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Key Facts

  1. In Deutschland erkrankt fast jede:r Fünfte im Laufe seines Lebens mindestens einmal an Depressionen.
  2. Das körpereigene Cannabinoidsystem könnte eine wichtige Rolle bei Depressionen spielen.
  3. Ob bei Depressionen Cannabiskonsum förderlich, unwirksam oder sogar kontraproduktiv sein könnte, lässt sich anhand von Studien noch nicht abschließend feststellen.

Depressionen und Cannabiskonsum – die grundlegenden Zahlen

Personen, die von Depressionen betroffen sind, kennt vermutlich fast jede:r – oder gehört sogar selbst dazu. Immerhin erkrankt laut Deutscher Depressionshilfe statistisch fast jede:r fünfte Bundesbürger:in mindestens ein Mal im Leben an einer Depression. Als klassische Behandlungen gegen die Krankheit gelten Psychotherapie und Psychopharmaka.

In Deutschland ist es grundsätzlich möglich, bei Depressionen einen Antrag auf medizinisches Cannabis zu stellen. Allerdings gilt Cannabis bei Depressionen nicht als offiziell anerkannte Behandlung, da eine entsprechende Wirksamkeit nicht ausreichend belegt ist. Gleichzeitig steht der Verdacht im Raum, dass Depressionen durch Cannabiskonsum verstärkt und sogar ausgelöst werden könnten.

In der Praxis ist es unter Nutzer:innen von medizinischem Cannabis nicht unüblich, Cannabis gegen Depressionen zu verwenden. Eine Auswertung der Daten von 6.500 Nutzer:innen von Medizinalcannabis aus 30 Ländern ergab, dass nach eigenen Angaben 34 Prozent davon medizinisches Cannabis gegen Depressionen verwendeten.


Nun muss das alleine noch nichts bedeuten. Können aktuelle Studien beantworten, ob bei Depressionen Cannabiskonsum hilfreich ist – oder das Gegenteil zutrifft?

Zum Hintergrund in Kürze: Das Endocannabinoidsystem

Dass Cannabis überhaupt erst eine Wirkung auf uns Menschen haben kann, hängt damit zusammen, dass wir alle über ein Endocannabinoidsystem (ECS) verfügen. Unser Körper produziert also von sich aus Cannabinoide – sogar in der Muttermilch sind diese schon enthalten. Der Nebeneffekt: Dank des ECS können wir später auch Cannabinoide aus Pflanzen, die sogenannten Phytocannabinoide, verarbeiten.

Man geht davon aus, dass das ECS unter anderem beim Gedächtnis, der emotionalen Verarbeitung sowie der Schmerzkontrolle eine Rolle spielt. Im Rahmen einer 2020 im Fachmagazin Frontiers of Psychiatry veröffentlichten Review kamen die Forscher:innen nach Auswertung eines breiten Spektrums klinischer Studien zum Schluss, dass Komponenten des ECS eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Depressionen spielen könnten.

Mehr Infos zum ECS finden Sie in unserem Artikel zum Endocannabinoidsystem.

Erfahren Sie außerdem, welche Wege es grundsätzlich geben könnte, das Endocannabinoidsystem zu beeinflussen.

Bei Depression: Cannabiskonsum? Auswertung der Nutzerdaten einer Cannabis-App

Ebenfalls im Jahr 2020 veröffentlichten Forschende der University of New Mexico im Yale Journal of Biology and Medicine eine Auswertung von Daten der „ReleafApp“. Die mobile Anwendung ermöglicht es Nutzer:innen, bei der Anwendung von Cannabis Wirkungen und Nebenwirkungen sowie weitere Parameter wie etwa die Darreichungsform aufzuzeichnen.

In die Auswertung wurden ausschließlich Sitzungen aufgenommen, bei denen die Nutzer im Vorfeld das Symptom „Depressionen“ angegeben hatten. Berücksichtigt wurden Daten von über 1.800 Personen, welche die ReleafApp zwischen 2016 und 2019 in knapp 5.800 Sitzungen genutzt hatten.

Die Ergebnisse der Auswertung

Laut den Forschenden erfuhren im Schnitt 95,8 % der Anwender:innen eine unmittelbare Linderung der Symptome nach dem Konsum. Auf der anderen Seite berichteten bis zu 20 % der Konsument:innen von Nebenwirkungen, die eine Depression verstärken können, wie etwa Demotivation.

Die Wissenschaftler:innen stellten bei den Effekten weder einen Unterschied zwischen Indica vs. Sativa beziehungsweise Hybriden noch zwischen den verschiedenen Verbrennungsmethoden fest. Allerdings konnten sie einen Zusammenhang zwischen höheren THC-Spiegeln und gelinderten Symptomen feststellen.

Können Depressionen durch Cannabiskonsum verschlimmert oder verursacht werden?

Ob Cannabisnutzer:innen langfristig umgekehrt sogar eher von Depression betroffen sind, ist nach wie vor eine strittige Frage. Verlaufsstudien, die einen möglichen Zusammenhang zwischen Depressionen und Cannabiskonsum untersuchen, liefern gemischte Ergebnisse. 

2014 widmeten sich Forschende der Frage daher in einer Review und Meta-Analyse. Von 57 berücksichtigten wissenschaftlichen Publikationen erfüllten 14 die Kriterien für eine quantitative Analyse. 

In ihrer Arbeit kamen die Forschenden zum Ergebnis, dass – insbesondere starker – Cannabiskonsum mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung depressiver Störungen verbunden sein könnte. Allerdings müsse der Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und der Entwicklung von Depressionen in weiteren Längsschnittstudien untersucht werden. Vor allem sei es wichtig, die „kumulative Exposition“ gegenüber Cannabis sowie potenzielle signifikante Störfaktoren zu untersuchen.

Antidepressiva und Cannabis: Gilt es Wechselwirkungen zu beachten?

Natürlich stellt sich beim Thema „Depressionen und Cannabiskonsum“ auch die Frage, ob und wie Antidepressiva und Cannabis miteinander interagieren. 

Zunächst muss man bedenken, dass unter den Oberbegriff „Antidepressiva“ verschiedene Arten von Medikamenten fallen, denen unterschiedliche Mechanismen zur Behandlung von Depressionen zugrunde liegen. Deshalb muss man auch mögliche Wechselwirkungen gesondert betrachten. 

Zu den am häufigsten verordneten Antidepressiva gehören die selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer, abgekürzt SSRI. Während die Frage nach Wechselwirkungen von Antidepressiva und Cannabis insgesamt wenig erforscht ist, liegt hier zumindest eine Studie vor.

SSRI und Cannabis bei Jugendlichen

Forscher der medizinischen Universität Cincinnati werteten in einer 2021 veröffentlichten Studie Daten zur Verarbeitung von Cannabis und Antidepressiva, genauer gesagt SSRI, bei Jugendlichen aus. 

Sie kamen zum Schluss, dass das beim Cannabiskonsum aufgenommene CBD und/oder THC die Konzentration bestimmter SSRI im Körper erhöhen könnte. Dies könnte das Risiko für konzentrationsbedingte Nebenwirkungen von SSRI steigern. 

Laut den Forschenden sollten Ärzt:innen bei der Verschreibung bestimmter SSRI (namentlich Sertralin, Citalopram und Escitalopram) in Betracht ziehen, das Thema Cannabiskonsum mit den Patient:innen anzusprechen. In diesem Zusammenhang sollte klargemacht werden, dass der Beginn, die Beendigung oder die Verringerung des Cannabiskonsums die Konzentration des Antidepressivums im Körper beeinflussen könnte.

Fazit: Kann man bei Depressionen Cannabiskonsum empfehlen?

Auch neuere Studien geben keine eindeutige Antwort, ob bei Depressionen Cannabiskonsum negativ oder positiv zu bewerten ist.

Eine der besonderen Herausforderungen dürfte darin liegen, dass schon beide Gebiete für sich – die Entstehung und Behandlung von Depressionen sowie die Wirkweise von Cannabis mit seinen unterschiedlichen Cannabinoid- und Terpenprofilen – so komplex sind, dass auch unabhängig voneinander noch eine Menge im Unklaren liegt.

Hier und heute heißt das aber: Vor dem Hintergrund einer unklaren Datenlage gilt es von eigenmächtigen Experimenten mit Cannabis bei Depressionen dringend abzuraten. Eine mögliche Verschreibung von Cannabis als Medizin kann pauschal weder empfohlen noch ausgeschlossen werden und sollte daher, wenn überhaupt, in ausführlicher ärztlicher Absprache abgewogen werden. 

Auch mögliche Gefahren gilt es in Betracht zu ziehen. So sollten Cannabissorten mit hohem THC-Gehalt – die laut der Leafly-Studie potenziell wirkungsvoll sein könnten – nur mit Bedacht eingesetzt und bei Jugendlichen und Menschen mit Angstzuständen oder psychotischen Störungen unbedingt vermieden werden.

Bei Depressionen Cannabiskonsum? Was für eine weitere Erforschung spricht

Während die Ergebnisse noch immer widersprüchlich sind, sollte nicht vernachlässigt werden, dass sich gerade unter der Auswertung der Anwenderdaten auch vielversprechende Resultate befinden. Fraglos reichen diese nicht aus, um abschließende Aussagen zu treffen, könnten aber Anlass genug sein, um weiter zu forschen.

Vor dem Hintergrund der massiven Krankheitslast von Depressionen sowie Psychopharmaka, die erst nach ein bis zwei Wochen anschlagen und nicht unerhebliche Nebenwirkungen mit sich bringen können, gilt eine Erforschung von weiteren Behandlungsmöglichkeiten bei Depressionen als besonders wünschenswert. Das Thema Cannabiskonsum könnte eines davon sein. Nur so wissen wir in einigen Jahren womöglich, ob Cannabis eines der Instrumente bei der Bekämpfung der tückischen Krankheit sein kann – oder nicht.

Sie haben den Verdacht, dass Sie oder eine Ihnen nahestehende Person an Depressionen leiden könnten? Depressionen sind heilbar. Auf der Seite der Deutschen Depressionshilfe finden Sie verschiedene Stellen, an denen Sie Hilfe bekommen.

Quellen:

Patient-reported use of medical cannabis for pain, anxiety, and depression symptoms: Systematic review and meta-analysis (Kosiba, Maisto et al., 2019)

Endocannabinoid System Components as Potential Biomarkers in Psychiatry (Navarrete, García-Gutiérrez et al., 2020)

The Effectiveness of Cannabis Flower for Immediate Relief from Symptoms of Depression

(Li, Diviant et al., 2020)

The association between cannabis use and depression: a systematic review and meta-analysis of longitudinal studies (Lev-Ran, Roerecke et al., 2014)
Medicinal cannabis for psychiatric disorders: a clinically-focused systematic review (Sarris, Sinclair et al., 2020)

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